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Dienstag, 3. September 2013

"Glück"

Tropf, tropf, tropf… Ich wurde durch das monotone Tropfen meines Wasserhahns aus einem schlimmen Alptraum geweckt. Ich hatte von einem Beben geträumt, von einer riesigen Flut aus schlammigem Wasser, die unser Dorf überrollt hatte. Gott sei Dank war es nur ein Traum gewesen, ich lebte noch.
    Ich wollte mich aufrichten, hatte unglaublichen Durst. Doch irgendwie klappte es nicht. Plötzlich spürte ich einen dumpfen Schmerz im ganzen Körper. Erst jetzt bemerkte ich, dass etwas unglaublich Schweres auf mir lastete. Panisch wand ich mich unter… Trümmern. Ich lag unter Trümmern!  In einem kurzen Augenblick hoffte ich, dass ich noch immer träumte. Doch langsam dämmerte mir die Wahrheit. Dies war kein Traum. Ich bin von der Welle erfasst worden. Mein Haus ist von der Welle erfasst worden. Und meine Familie? Ich versuchte, mich von den Trümmern frei zu machen, während ich den Namen meiner Frau rief. Meine Stimme war heiser und mein Hals trocken. Sie antwortete nicht. Ich rief nach meinen Kindern. Sie antworteten nicht.
Tropf, tropf, tropf… Das Tropfen des Wasserhahns machte mich noch durstiger. Erst später realisierte ich, dass es die schlammigen Überreste der Flut waren, die ich die ganze Zeit über tropfen hörte.
   Wie lange ich wohl bewusstlos gewesen bin? Ich konnte es nicht sagen. Ich konnte nicht einmal sagen, wie lange ich da lag und nach meiner Familie rief. Ich musste schon eine Weile hier gelegen haben, denn das Blut, das mir im Gesicht klebte, war bereits verkrustet.
   Der vorangegangenen Panik folgte Ernüchterung. Nachdem ich für eine ungewisse Zeit um meine Familie bangte, wurde mir klar, dass auch mein Ende nahte. Wie lange konnte ein Mensch ohne Nahrung überleben? Wie lange ohne Wasser? Ich sah mich um. Waren Luftlöcher zu sehen? Vielleicht war’s das. Ja, das war’s also. Mein Leben, so zu ende. Fortgespült von einer Welle.
   Ich musste weinen. Wie viel ich noch vorhatte.  Wie viel ich plötzlich bereute. Ich erinnerte mich an den Streit mit meiner Frau. Sie hatte mein Hemd für das Büro nicht gebügelt. Hätte ich sie doch deswegen nicht so angeschnauzt und sie traurig gemacht. Hätte ich doch nur gelächelt und ihr gesagt, dass ich ihr dankbar für alles bin, was sie für die Familie getan und aufgegeben hat. Hätte ich meine Eltern öfter besucht. Wie oft hatten sie nach mir und ihren zwei Enkeltöchtern gefragt.  Voller Bedauern vermisste ich plötzlich Mutters Essen. Vaters Rufe nach mir und meinen Geschwistern. Ihr Lachen.
  Ich wollte meinen Töchtern noch Europa zeigen. Sie wollten mit mir zum Ballett gehen. Immer hatte ich sie abgewimmelt. Ich musste arbeiten. Wieso war ich nur einer von diesen Vätern gewesen, die ihre Arbeit stets vorgezogen hatten, anstatt ihre Versprechen zu halten?
   Irgendwann hörte ich auf zu weinen. Mein Mund wurde zu trocken. Eine Weile lag ich so hilflos da, versuchte ab und zu, meinen eingeklemmten Unterkörper zu befreien. Dann wurde ich wieder bewusstlos.
   Als ich wieder erwachte, hallte ein schöner Traum in meinen Gedanken nach. Die früheste Erinnerung, die ich hatte. Wie ich zum Geburtstag eine Torte mit Kerzen darauf bekommen hatte. Das strahlende Gesicht meiner jungen Mutter, das vom warmen Kerzenlicht erhellt wurde, im Hintergrund die Stimme meines Vaters, der das Geburtstagslied anstimmt.
    Die nächste schöne Erinnerung war die Geburt meiner jüngeren Schwester. Wie stolz ich war, jetzt ein großer Bruder zu sein. Dann meine Einschulung.
   Der Tag, an dem ich meine Frau kennen gelernt hatte. Wir waren in einem zarten Alter und sie war wunderschön gewesen. Ihr schwarzes Haar fiel ihr offen über die Schultern. Der Tag unserer Hochzeit, die Freudentränen meiner Mutter.
   Die Geburten meiner beiden Töchter. Ich erinnerte mich mit voller Wehmut an das Gefühl, als ich meine Erstgeborene das erste Mal in den Armen hielt. Das schönste Baby der Welt. Ich hatte meiner Frau scherzend gesagt, dass wir später die ganzen Männer von ihr fernhalten müssten. Nun würde sie nie einen Mann kennenlernen. Tränen kämpften sich erneut in meine Augen, doch ich zwang mich dazu, in den letzten Momenten meines Lebens an gute Dinge zu denken.
   Ich erinnerte mich an alle acht Geburtstage meiner älteren und an alle vier meiner jüngeren Tochter. Die eine wollte immer Schokokuchen haben. Die Kleine hingegen immer einen rosa Zuckerguss. Beide liebten Ballett. Sie sahen aus wie kleine, süße Feen, wenn sie tanzten.
   Mit dem Bewusstsein, dass ich ein glückliches, erfülltes Leben gehabt habe, wurde ich immer wieder bewusstlos. Ich trank aus einer schmutzigen Pfütze, die sich neben mit gebildet hatte. Nicht, weil ich Angst vor dem nahenden Tod hatte, sondern weil der Durst irgendwann unerträglich wurde.
   Wie viel Zeit wohl verstrich? Irgendwann schmerzte mein Magen. Ich bekam Hungerkrämpfe; ab und zu, wenn es mich überkam, auch Heulkrämpfe.
   Gerade, als ich nach einer Bewusstlosigkeit wieder zu mir kam und dachte, dass das Ende jetzt da war, sandte ich einen letzten Gedanken an meine Lieben. Hoffentlich habt ihr überlebt, meine Lieblinge. Hoffentlich seid ihr wohlauf und werdet glücklich weiterleben. Ich gab einen Seufzer von mir. Ich schloss meine Augen und wartete, dass Gevatter Tod mich zu sich nahm.
   Dann hörte ich Stimmen. Ich riss die Augen auf. Halluzinierte ich jetzt? Vielleicht war die Rettung nahe! Ich horchte genauer hin. Jemand rief meinen Namen. Ich versuchte zu antworten, doch meine Stimme versagte. Das Rufen kam näher. Es waren die Stimmen meiner Frau und meiner Töchter. Plötzlich sah ich sie vor mir. Sie waren vollkommen unverletzt und so schön wie immer. Sie reichten mir die Hände und zogen mich hoch. War ich gerettet?

Mini Mango- 2011


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